Ausstellung

urbEXPO und die Selbstverbesserung der Stadt

Über die Ästhetik des Verfalls

Andrea Bienert: »Presidio Modelo 2«, Kuba 2015

Das Ruhrgebiet ist keine Schönheit, mit der Ästhetik des Verfalls kennt man sich hier aus. Und was verfällt, das soll man stoßen. Was wiederum den Vorteil hat, dass man hier nicht auf die Idee kommt, dem Städtebau einen utopischen Gehalt anzudichten. Die utopische Stadt ist die verlassene. Und umgekehrt, jeder Lost Place ist eine gebaute Utopie. Kleiner Streifzug durch die Baugeschichte, er führt aus dem Paradies hinaus in die geträumte Stadt hinein in das Panopticum, vorbei an dem „Presidio Modelo“, dem kubanischen Modellgefängnis, weiter in die Truman Show und schließlich in die Schlegel-Keller nebenan. Zuerst also:

Das Paradies

Kristina Salm, Frechen: Zurück zur Natur 3«, Deutschland 2017

war der erste aller Orte, der sich selber überlassen blieb, weil alle Menschen ihn verlassen hatten. Die Bibel stellt ihn als einen Garten vor, der überall und nirgends liegt. Menschen, die darin wandeln, kennen weder Zweifel noch Scham. Keine Sehnsucht, keine Bilder, keine Musik. Am Ende ist es die Religionskritik  –  auch sie stammt offensichtlich aus dem Paradies  –  die zum Exodus führt, die schlaue Frage der Schlange: Sollte Gott es so gemeint haben?

Die erste Stadt

Thomas Gerwert, Meerbusch: »Radio Memories«, Belgien 2017

Hieß Henoch, sie wurde diesseits vom Paradies gebaut, gegründet hat sie Kain, der begnadigte Mörder. Und dann ist es  –  wir gehen hier immer der Bibel nach  –  just diese Linie, in der die Kunst erwacht: Von Kain, dem Städtebauer, sind hergekommen „alle Zither- und Flötenspieler“, heißt es in 1Mo 4,21.

Folglich liegt hier auch der Ursprung der Musikkritik: Wenn es schön klingt, schallt es eben nicht vom Paradies herüber, es echoet kein Ideal, sondern alle Musik, auch die schönste, wird im Schweiße des Angesichts gespielt und nie länger als bis du wieder zu Erde werdest.

Zum Vergleich: Etwa zeitgleich  –  ca 6 Jahrhunderte vC  –  setzt die griechische Philosophie den Gedanken in die Welt, Musik sei der Abklang himmlischer Sphären. Die Bewegung der Himmelskörper, meinte etwa Pythagoras von Samos, sei nicht nur zu berechnen (was er ja nun konnte: rechnen), sie setze auch Töne frei, und die ergäben ein harmonisches Zusammenspiel, eine kosmische Symphonie

Ist das so? Klingt Musik tatsächlich so wie Sterne knirschen, wenn sie ihre Runden drehen? In der Bibel sind es Menschen, die flöten. Sterne sind Scheinwerfer, sie sind, so wörtlich in 1Mo 1, „angeschraubt“ ans Firmament, wir kommen darauf zurück.

Die erste Großstadt

Kristina Salm, Frechen: »Zurück zur Natur 6«, Deutschland 2017

ist Babel: „Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche …“ Die Idee scheitert bekanntlich, aber nicht deshalb, weil es falsch gewesen wäre, eine Großstadt zu bauen, sie scheitert an der Einzahl, die Bibel (just in 1 Mo 11) zählt auf: 1 Volk, 1 Sprache, 1 Stadt, 1 Turm und 1 Ziel: „dass wir uns 1 Namen machen“.

Die 1 ist das identitäre Prinzip, man kennt es aus „1 Volk 1 Reich 1 Führer“, dagegen hilft nur der Plural: viele Völker und Sprachen, viele Städte und Türme, jeder Mensch mit eigenem Namen. Die Eins bleibt für den, dessen Name unaussprechlich bleibt.  –  Auch deswegen gilt:

Die Stadt im Himmel

Christian Schmöger, Kitzingen: »7:35«, Italien 2017

ist menschenleer, es war noch niemand da, sie ist der Lost Place par excellence. Dass es auch im Himmel eine Stadt geben könnte – anstelle eines Gartens wie vormals im Paradies – , diese scheinbar platonische Idee des Urbanen ist eine jüdische: Die himmlische Stadt ist ja nicht irgendeine, sondern das himmlische Jerusalem.

Im Judentum allerdings nicht als Sehnsuchtsort erträumt, nicht als Utopie, eher ist sie Platzhalter fürs wirkliche Jerusalem, das 587 vC von Nebukadnezars Truppen zerstört worden war.

Das eigentlich utopische Moment schlägt erst in der christlichen Theologie durch, die  –  eng an die griechische Metaphysik geschmiegt  –  von einem Jenseits zu träumen begann, einem Ort, wo die Ideen wohnen:

Im letzten Buch der Bibel wird die Stadt (und wieder ist keine Rede von einem Garten, die Bibel denkt recht urban) zum Vorstellungsort für eine erlöste Welt. Erst die Stadt – und nicht das Leben in paradiesischer Natur – steht für ein Leben ohne Zwang und Not.

Eine solche Stadt aber, und das ist entscheidend an der christlichen Vorstellung, wird nicht auf Erden gebaut, sie kommt „von Gott aus dem Himmel herab“ (Off 21,2). Anders gesagt, kein Turm soll jemals in die Himmel reichen, kein Mensch soll jemals gottgleich thronen. 

Und dann kommt sie doch:

Die utopische Stadt

Es kommen die großen Utopien, sie sind  –  bis ins 18. Jh hinein, bis hin zu Rousseau  –  rein urbane Utopien. 1516 bereits lässt Thomas Morus in „Utopia“, dem genre-stiftenden Roman, die Menschen in Städten leben, 1602 folgt Tommasso Campanellas „Sonnenstadt“, 1627 Francis Bacons „Neu-Atlantis“ und  –  hier etwas ausführlicher vorgestellt  –  1618 Johann Valentin Andreae und seine Idee für eine „Christianopolis“:

Eine geometrische Stadt, konzentrisch, 1 Turm in der Mitte:

Christianopolis von Johann Valentin Andreae, 1618 (cc)

Andreae beschrieb seine Idee so:

    „[Das eigentlich Innerste der Stadt] ist viereckig, außen 270, innen 190 Schuh in der Ausdehnung, mit vier Türmen in den Ecken umschlossen und ebenso vielen gegenüberliegenden durchschnitten, außerdem von einer doppelten Reihe Gärten umgeben. Das ganze Gebäude hat vier Stockwerke, die bis 12, 11, 10 und 9 Schuh emporsteigen, über die die Türme noch einmal mit 8 Schuh hinausragen. Zum innerhalb gelegenen Markt hin gibt es einen mit seinen 72 Säulen beachtlichen Kreuzgang …“

usw., die Zahlen sind äußerst exakt und keinesfalls beliebig, es sind, schrieb er, „geheime Zahlen“, denen entlang man wie auf einer Leiter „höher hinauf“ gelangen könne dahin,

    „da auch Gott seine Zahlen und Maße hat, die zu betrachten dem Menschen ziemt. Denn jener höchste Baumeister hat keineswegs dieses Weltgebäude aufs Geratewohl geschaffen, sondern es mit Maßen, Zahlen und Verhältnissen sehr weise angereichert und die durch wunderbare Harmonie eingeteilte Zeit hinzugefügt. Vor allem in seinen Werkstätten und typischen Gebäuden hat er für uns seine Geheimnisse niedergelegt, daß wir mit dem Davidischen Schlüssel Länge, Breite und Tiefe der Gottheit aufschließen und den Messias als über alles Ausgebreiteten erkennen, daß wir entdecken, wie er in unaussprechlicher Harmonie alles zusammenhält, alles machtvoll und weise bewegt …“

Im Ernst? Die Gottheit der Länge, Breite und Tiefe nach ermessen? Andreae war beides, Mathematiker und Theologe, ein Früh-Aufklärer und früher Pietist: als Mathematiker war er irrational, als Theologe rational und bei nächster Gelegenheit umgekehrt, eine für die Aufklärung nicht untypische Mixtur. Anderes Beispiel:

Die totale Stadt

Andrea Bienert: »Presidio Modelo 1«, Kuba 2015

hat Jeremy Bentham [1748 – 1832] sich ausgedacht. Bentham, Begründer des Utilitarismus‘, Vordenker des Liberalismus, ein Freigeist sondergleichen, just er entwickelt das Modell für eine Stadt, die, würde sie jemals gebaut, jede Subjektivität auflösen würde  –  das Panopticum: eine kreisrunde Anlage, 1 Turm in der Mitte.

Der Übergang vom quadratischen Grundriss zum kreisrunden ist Benthams Clou. Erstens weil sich nun alle Kommunikation von selber auf die Mitte richtet: Wer die Mitte hält, hält die Macht (nach Bentham sollte alles, auch der Gottesdienst im Wachturm abgehalten werden).

Zweitens verspricht der kreisrunde Bau, dass alle von allen gesehen werden: Es geht um Selbstüberwachung, die funktioniert auch dann, wenn der Wachturm selber unbesetzt bleibt.

Bentham entwirft sein Panoptikum  –  „eine einfache architektonische Idee“, wie er schrieb  –  zunächst als Gefängnis, das Presidio Modelo auf Kuba ist eine späte Realisierung dieser Idee. Von vornherein aber war es für Bentham völlig plausibel, seine Idee auch auf Schul- und Kranken- und Armen- und Irrenhäuser zu übertragen, also auf zuletzt alle sozialen Orte einer städtischen Gesellschaft.

Er will  –  und das war seinerzeit ein durchaus ehrbares Motiv: oft starb, wer im Gefängnis oder Krankenhaus gelandet war, unbemerkt vor sich hin  –  Bentham will eine fürsorgliche Kontrolle und Egalität, er will, im SPD-Sprech formuliert, dass niemand zurück gelassen wird.

Andrea Bienert: »Presidio Modelo 3«, Kuba 2015

Später macht Michel Foucault das Panopticum zur Metapher für eine Gesellschaft, die das „Überwachen und Strafen“ internalisiert und sich selber bis in die letzten Winkel der Persönlichkeit hinein unter Sozialkontrolle stellt.

Was ja wiederum bedeuten würde, dass auch alle Bewacher bewacht seien und alle Kontrolleure kontrolliert: In der Tat hatte Bentham die Regierung „in the centre of the circle formed by the waiting rooms“ platziert, sein Panoptikum, schrieb er, „becomes an instrument to discipline the government“. Kontrolliert wird in Benthams Stadt also nicht von oben nach unten oder von der Mitte nach außen, sondern responsiv, und spätestens damit rückt die Idee der totalen Stadt der digitalen Gegenwart nahe, in der es keiner Stasi mehr bedarf, solange alle überwacht werden von allen, die ein Smartphone mit sich führen.

Die digitale Stadt? Eine gigantische Erziehungsanstalt, eine Selbstverbesserungsmaschine.

Die total fiktive Stadt: „Truman Show“

Ein letzter Schlenker, er führt nach „Seahaven“ in Peter Weirs „Truman Show“ von 1998:

die Stadt ein riesiges Filmstudio, alle Stadtbewohner sind Darsteller, alle unter höherer Regie, alle bis auf Truman Burbank. Er wurde als Kind in die Kulissen gesetzt und nimmt, was immer die Regie arrangiert, für bare Münze einschließlich der Gefühle, die ihm entgegen geflattert werden. Nach und nach kommt er der Utopie auf die Schliche …

… und seine Zweifel beginnen damit, dass  –  siehe oben  –  ein Stern vor seine Füße fällt, der am Himmel angeschraubt war, ein ordinärer Scheinwerfer. Seahaven wird zum see heaven … am Ende wird klar: Das Paradies ist dazu da, auszubrechen aus ihm.

Die total wiederaufgebaute Stadt

BVZ, Rathaus, Politik | thw 2017

ist allerdings selten geglückt. Zum Glück, muss man sagen, die Utopien der Städteplaner sind, eben weil sie gescheitert sind, bewohnbar geblieben. Auch die urbEXPO – Lost Places und die Ästhetik des Verfalls gewinnt ihren Sinn darin, dass man, um sie in den Bierkellern der alten Schlegel-Brauerei zu besuchen, durch Bochums Innenstadt spazieren muss.

Und diese Innenstadt ist gut darin, einen zu trösten, sie tut es mit Elias Canetti:

“In einer wirklich schönen Stadt lässt es sich auf Dauer nicht leben, sie treibt einem alle Sehnsucht aus.”


urbEXPO | LOST PLACES UND DIE ÄSTHETIK DES VERFALLS

VERNISSAGE
» mit der Multimedia-Formation Transhuman Art Critics
» Preview der urbEXPO 7 in der verfallenen Großküche der alten Schlegel-Brauerei
» 08.Juni 2018 | 20 Uhr
» Christuskirche Bochum
» Eintritt frei
» hier alle Infos zur Vernissage

AUSSTELLUNG
» 09. — 24.Juni 2018
» Schlegel-Haus | Willy-Brandt-Platz 5–7 | 44 787 Bochum
» Eintritt: 3,- €

OEFFNUNGSZEITEN
» montags bis freitags: 15 bis 20 Uhr | samstags & sonntags: 12 bis 18 Uhr

LINKS
» www.urbexpo.eu
» www.facebook.com/urbexp